Omar Dekhili: Wider den Dogmatismus, wider den Geschichtsfetischismus

Die ursprüngliche Fassung dieses Essays stellte eine Popularisierung des Forschungsstandes an der Arbeit zu einem Buch zum Thema Dogmatismus und Geschichtsfetischismus dar. Dadurch haben sich zwei besondere Herausforderungen gestellt: zum einen musste eine Popularisierung schon vor der Vollendung der wissenschaftlichen Arbeit stattfinden. Zum anderen, und damit zusammenhängend, konnte das beschriebene Phänomen noch nicht umfassend erfasst und beschrieben werden. Es war dann vor allem ein zentraler Mangel am Text zu kritisieren: die gänzliche Abwesenheit des Patriarchats in der Betrachtung. Diese Abwesenheit ist nicht einfach durch den mangelnden Forschungsstand zu erklären, sondern sie ist selbst Ausdruck der patriarchalen Prägung des Autors und der Reproduktion des Geschichtsfetischismus in der Arbeit selbst. Weitere Forschungen und vor allem die praktische Arbeit mit Genossinnen haben mich das erkennen lassen. Ich bin daher sehr dankbar dafür, dass ich die deutsche Übersetzung, neben einigen kleinen Forschungsergebnissen, um diesen zentralen Aspekt ergänzen konnte und hoffe, dem Problem wenigstens im Ansatz etwas genügen zu können. Das Patriarchat aber ist ein in der marxistischen Tradition nach wie vor stark untertheoretisiertes gesellschaftliches Verhältnis, dessen Bedeutung für die praktische Revolutionierung unserer Welt nicht überschätzt werden kann. Diese Arbeit kann nur ein Tropfen auf den heißen Stein sein.
Ich danke dem Team von Material und insbesondere dem Übersetzer für die Arbeit und das Vertrauen, das sie in meine Arbeit gesetzt haben. Und ich hoffe, das diese theoretische Arbeit einen, wenn auch sehr kleinen, Nutzen für die wirkliche Befreiung unserer Klasse bieten kann.

Omar Dekhili, September 2024

„Wenn eine Kritik kreativ sein soll, muss sie über Offenlegung und Widerlegung hinausgehen und eine Gelegenheit zur selbstkritische Reflexion werden. Die Aspekte des eigenen Denkens, die denen, die kritisiert werden, entsprechen, müssen aufgespürt werden.“1

Wir befinden uns an einem entscheidenden historischen Umschlagpunkt, der uns erneut Möglichkeiten revolutionärer Transformationen eröffnet. Das imperialistische System befindet sich in einer tiefen Krise. Die Arbeiter:innenklasse erwacht aus ihrem jahrzehntelangen Schlummer. In den imperialistischen Ländern wird das die erste Gelegenheit sein, wirkliche Vorhutparteien wiederaufzubauen, seit der letzten Krise dieser Art, seit der Neuen Kommunistischen Bewegung2 (NKB) der 1960er bis 1980er Jahre. Um diese Chance zu nutzen, müssen wir Lehren aus der letzten revolutionären Phase ziehen und die subjektiven Schwächen überwinden, die die revolutionäre Arbeiter:innenbewegung seit der Verwandlung des Kapitalismus der freien Konkurrenz in den kapitalistischen Imperialismus in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts plagen. Zu diesen subjektiven Schwächen, die es uns erschweren, Lehren aus dem Klassenkampf zu ziehen, gehört vor allem der Dogmatismus. Um dieses Problem zu überwinden, müssen wir seine zahlreichen gesellschaftlichen und ideologischen Wurzeln ausfindig machen und sie gründlich herausreißen. Dieser Essay ist ein Versuch, eine dieser Wurzeln zu finden und Mittel zur Überwindung des Dogmatismus-Problems vorzuschlagen. Das fragliche Phänomen ist der Geschichtsfetischismus – doch bevor wir es untersuchen können, müssen wir kurz einige für unsere Untersuchung notwendige Begriffe klären: Dogmatismus und Fetischismus.
In seinen Gefängnisheften (in denen er gezwungen war, eine verschlüsselte Sprache zu verwenden) nennt Gramsci den Marxismus die Philosophie der Praxis. Dieser Name erfasst den Kern des Marxismus, die Einheit aus Theorie und Praxis von Klassenkräften, die wirkmächtig genug sind, um die Gesellschaft qualitativ zu verändern. Theorie ist ein Produkt der Praxis und führt, indem sie sie leitet, in diese wieder zurück. Den Test ihrer Gültigkeit sowie die Mittel, um den Klassenkampf weiter voranzutreiben und der sozialen Wirklichkeit so näher zu kommen, findet die Theorie in der Praxis. Wenn die Praxis scheitert, zerfällt sie in zwei einander entfremdete Seiten: Empirismus, der von der Theorie losgelöste Praxis ist, und Dogmatismus, der von der Praxis losgelöste Theorie ist. Letzteres ist die Unfähigkeit, aus dem Bereich der Theorie in die konkrete Wirklichkeit überzugehen, die konkrete Untersuchung einer konkreten Situation vorzunehmen, um die proletarische Praxis voranzubringen. Der Dogmatismus kann zwei allgemeine Formen annehmen: den eklektischen Dogmatismus und den Dogmatismus im engeren Sinne. Der eklektische Dogmatismus kombiniert alle Arten von Theorien und einzelne Theoreme ohne Rücksicht auf deren Zusammenhang; diese Form ist eher für Intellektuelle charakteristisch. Der Dogmatismus im engeren Sinne klammert sich an eine bestimmte Theorie und betrachtet alle anderen Theorien als vollkommen falsch. Diese Form des Dogmatismus ist weiterverbreitet und daher allgemein bekannt. Beide Formen eint, dass sie im entfremdeten theoretischen Denken stecken bleiben, auch wenn sie einander entgegengesetzt sein können.
Fetischismus ist ein Phänomen, das in vielen Formen auftritt – jede davon muss in ihren besonderen Bewegungen und Wurzeln konkret untersucht werden. Was die verschiedenen besonderen Formen im Allgemeinen eint, ist der folgende Prozess: Gesellschaftliche Verhältnisse – seien es Produktionsverhältnisse, Klassenkampf, Denken usw. – können objektiviert werden. Wir können ein nützliches Produkt herstellen, also objektivieren wir gesellschaftliche Arbeit. Wir können ein Buch schreiben, also objektivieren wir Denken. Oder wir können ein Lied über eine populäre Revolutionär:in schreiben, also objektivieren wir Klassenkampf. Dies ist ein den Menschen eigenes Vermögen, das es uns ermöglicht, unsere Fähigkeiten zu entwickeln. Das Problem entsteht, wenn die Produkte dieser Objektivierungsprozesse entfremdet werden, zum Beispiel durch das Privateigentumsverhältnis. Dann kann der Effekt des Fetischismus eintreten, bei dem wir die Tatsache aus den Augen verlieren, dass diese Objektivierungen Ausdruck und Vermittlungen gesellschaftlicher Verhältnisse sind, und wir beginnen, sie mit Eigenschaften der Objekte oder Verhältnisse zwischen ihnen zu verwechseln. Die Objektivierungen, die sonst gesellschaftliche Verhältnisse vermitteln würden, werden zu Verdinglichungen, die ihre gesellschaftliche Herkunft verschleiern3. Verschiedene Fetischismus-Formen können miteinander interagieren und sich gegenseitig verstärken. Sobald wir uns einer Form des Fetischismus bewusst werden, müssen wir ihre Bewegungen bis zu ihren ursprünglichen Wurzeln zurückverfolgen und dann die entfremdenden gesellschaftlichen Verhältnisse beseitigen, die den Fetischismus hervorbringen. Letzten Endes sind die meisten Formen des Fetischismus in der Klassengesellschaft verwurzelt und können nur durch eine Revolution überwunden werden, in der eine klassenlose und staatenlose kommunistische Gesellschaftsformation errichtet wird.
Ein überaus wichtiges und in seiner Bedeutung auch für die Arbeiter:innenbewegung kaum zu überschätzendes gesellschaftliches Verhältnis, das dem Kapitalismus voraus geht und nicht dessen eigentümliches Produkt ist, stellt das Patriarchat dar. Es geht aus der Auflösung der urkommunistischen Gesellschaften durch die Entstehung erster Formen der Arbeitsteilung und des Privateigentums hervor, wird mit dem Entstehen der bürgerlichen Gesellschaft zum wesentlichen Bestandteil dieser gesellschaftlichen Totalität und erhält dadurch auch ein eigenes Gepräge – so wird beispielsweise die bürgerliche Familie zur patriarchal dominierten kleinsten Produktionseinheit des Kapitalismus. Die Aufhebung des Patriarchats muss selbst ein bewusster Teil des Kampfes um den Kommunismus sein. Der Kommunismus kann selbst nur mit der Aufhebung des Patriarchats erreicht werden4.
Nach dieser allgemeinen begrifflichen Klärung können wir uns nun unserem eigentlichen Thema zuwenden – dem Phänomen des Geschichtsfetischismus: auf welche Weise er mit dem Dogmatismus zusammenhängt, wie beide historisch erzeugt und, manchmal auch verhindert wurden.

Das Phänomen des Geschichtsfetischismus

Hegel bemerkte einmal, dass es in der Geschichte der Philosophie einen Punkt gibt, an dem die Menschheit so viele philosophische Systeme produziert und angehäuft hat, dass es zu einem eigentümlichen Phänomen kommt, einem Sprung von Quantität zur Qualität. Im Angesicht dieses Phänomens verwandeln sich bestimmte Philosoph:innen in desinteressierte Beobachter:innen dieser unzähligen Systeme. Sie wollen die Totalität nicht mehr begreifen. Sie sind nur noch daran interessiert, die skurrilen Ausdrücke dieser Systeme zu sammeln, statt ihr Wesen zu erfassen, die Art und Weise, wie die Systeme ihrer Zeit einen philosophischen Ausdruck verliehen haben.

„Auf diese Weise ist [die Philosophie] in den Rang der Kenntnisse versetzt. Kenntnisse betreffen fremde Objekte; in dem Wissen von Philosophie, das nie etwas anderes als eine Kenntnis war, hat die Totalität des Innern sich nicht bewegt und die Gleichgültigkeit ihre Freiheit vollkommen behauptet. Kein philosophisches System kann sich der Möglichkeit einer solchen Aufnahme entziehen; jedes ist fähig, geschichtlich behandelt zu werden. Wie jede lebendige Gestalt zugleich der Erscheinung angehört, so hat sich eine Philosophie als Erscheinung derjenigen Macht überliefert, welche es in eine tote Meinung und von Anbeginn an in eine Vergangenheit verwandeln kann.“5

Für Hegel war dies ein entscheidender Schritt hin zur Entwicklung seines eigenen Systems, an dem wir aber nicht speziell interessiert sind. Aufschlussreich für unsere Untersuchung des Geschichtsfetischismus ist: 1) der hier beschriebene historisch bedingte qualitative Sprung; 2) die fetischistische Wirkung, die er hervorrufen kann; 3) die Notwendigkeit, diese Form des Fetischismus zu überwinden, um zum Wesen des Phänomens zu gelangen und die Ursachen der fetischistischen Wirkung zu finden. Natürlich können wir uns nicht mit der idealistischen Variante zufrieden geben, in der Hegel sein Problem gelöst hat. Für uns ist nur die abstrakte logische Form und Hegels Erklärung des Problems wichtig. Indem wir das Phänomen untersuchen, müssen wir seiner konkreten logischen Form nachspüren und dabei auch Hegels Abstraktionen hinter uns lassen.
Durch die Klassenkämpfe der letzten zwei Jahrhunderte hat die Arbeiter:innenklasse ihren Kampf verändert. Weg von einem durch utopische Theorien geleiteten, hin zu einem von der eigenen Wissenschaft – dem Marxismus – geleiteten. Mit diesem Wandel veränderten wir auch unsere Begriffe von Sozialismus und Kommunismus, zu immer konkreteren Zielen. Wir leiten sie nicht mehr aus dem Reich des abstrakten Denkens, sondern aus den konkreten Gesellschafts- und Produktionsverhältnissen der bürgerlichen Gesellschaft, aus den Widersprüchen der bürgerlichen Gesellschaftsformation selbst, ab.
Die zweite Veränderung bestand darin, dass die Arbeiter:innenklasse ihre eigene Geschichte angehäuft hat. Eine kurze Aufzählung nur der wichtigsten Punkte des proletarischen Klassenkampfes soll den qualitativen Sprung verdeutlichen, der sich durch die Akkumulation von Produkten geschichtlicher Kämpfe vollzogen hat: der Erfolg und die Niederlage der Pariser Kommune; der Aufstieg und der Zusammenbruch der revolutionären deutschen Arbeiter:innenbewegung; der Zusammenbruch der Zweiten Internationale; der Sieg der Oktoberrevolution und die sozialistischen Fortschritte der UdSSR; die Niederlage der europäischen Arbeiter:innenbewegung während des Aufstiegs des Faschismus; der Sieg der chinesischen Revolution; die Niederlage der roten Linie in der UdSSR und der Aufstieg des modernen Revisionismus; die nationalen Befreiungsbewegungen; die 68er Aufstände und die Neue Kommunistische Bewegung und ihre Niederlage; die Große Proletarische Kulturrevolution und ihre letztendliche Niederlage und die darauf folgende Restauration des Kapitalismus in China; die jüngsten (sowohl besiegten als auch laufenden) Revolutionen in Peru, Nepal, Indien und auf den Philippinen. Durch diesen Prozess ist das gleiche Problem aufgetreten, das Hegel im Falle der Geschichte der Philosophie angedeutet hat: Das Proletariat hat seine eigene Geschichte geschaffen und damit besteht die gleiche Gefahr des Fetischismus, d. h. des Geschichtsfetischismus.
An jedem Punkt des Klassenkampfes produziert die Arbeiter:innenklasse Objektivierungen dieses Kampfes: Bücher, Lieder, Dokumente, Gemälde usw. Es handelt sich dabei um die Verwandlung realer Prozesse in objektive Formen. Die jeweiligen Objekte dienen wiederum dazu, unser theoretisches Niveau und unser Klassenbewusstsein zu erhöhen, unsere Siege zu feiern, mit den Niederlagen abzurechnen, usw. Da die Objektivierungen Produkte des Klassenkampfes sind, stehen sie auch im Dienst dieses Kampfes, führen in ihn zurück und bringen ihn voran. Nehmen wir das Beispiel von Lenins Buch „Was tun?“, das in einer entscheidenden Phase des Klassenkampfes in Russland geschrieben wurde. Sein Ziel war es, die marxistische Bewusstseinstheorie und die marxistische Parteitheorie voranzubringen, sich gegenüber dem Ökonomismus abzugrenzen und so den Klassenkampf voranzutreiben. Damals gab es keinen Zweifel am Zweck dieser Objektivierung; sie war ein Produkt des proletarischen Klassenkampfes und stand ganz in dessen Dienst. Das Buch fungierte als Vermittlung innerhalb des größeren gesellschaftlichen Prozesses.
Aber diese Objektivierungen haben einen Doppelcharakter. Da sie objektive Repräsentationen von ansonsten nicht direkt wahrnehmbaren gesellschaftlichen Verhältnissen sind, bilden sie eine Einheit von Gegensätzen. Dabei handelt es sich um ein schwierigeres dialektisches Phänomen, denn die objektive Form ist genau das, was sekundär ist, da sie nur als das Medium der dargestellten Klassenkämpfe dient. Wir, die Arbeiter:innenklasse, interessieren uns nicht für ein Gemälde eines Arbeiter:innenstreiks, weil es uns als Objekt gefällt, sondern weil wir einen Bezug zu den Kämpfen haben, die es darstellt, da wir selbst noch in solchen Kämpfen stecken. Doch je mehr sich die proletarische Geschichte ansammelt, desto größer ist die Gefahr, die objektivierte Seite mit einem Selbstzweck zu verwechseln. Die einzelnen Objektivierungen häufen sich in einem solchen Maß, dass eine größere Geschichte entsteht – die Geschichte des proletarischen Klassenkampfes. Diese spezifisch proletarische Geschichte läuft dann Gefahr, sich in einer abstrakten Idee von Geschichte im Allgemeinen aufzulösen, wodurch sie ihre vermittelnde Qualität verliert. Die gesellschaftlichen Verhältnisse, die vermittelt werden sollen, werden verdinglicht. Wir verlieren den Klassenkampf aus den Augen und sehen nur noch seine Objektivierungen. Menschen, die sich in diesem Phänomen verlieren, können sich im Reich des reinen Denkens verlieren und im schlimmsten Fall sogar unwissentlich auf die Seite der Bourgeoisie verlaufen. Krupskaja bringt das folgende anschauliche Beispiel für das, was wir zu analysieren versuchen:

„Lenin studierte die Erfahrungen des internationalen Proletariats mit besonderem Eifer. Es gibt kaum jemanden der Museen mehr verabscheute als Lenin. Die Buntheit und das Durcheinander der Museumsausstellungen deprimierten Wladimir Iljitsch so sehr, dass zehn Minuten in einem Museum normalerweise ausreichten, um ihn erschöpft aussehen zu lassen. Aber an eine Ausstellung erinnere ich mich besonders lebhaft – die Ausstellung zur Revolution von 1848, die in zwei kleinen Räumen im Pariser Arbeiterviertel stattfand, das für seinen revolutionären Kampf berühmt war. Sie hätten sehen sollen, wie sehr sich Wladimir Iljitsch dafür interessierte, wie sehr er in jedes kleine Ausstellungsstück vertieft war. Für ihn war es ein lebendiger Teil des Kampfes. Als ich unser Revolutionsmuseum besuchte, dachte ich an Iljitsch und daran, wie er an jenem Tag in Paris jedes kleine Exponat unter die Lupe nahm.“6

Lenin zeigt sich in dieser Anekdote also desinteressiert an den verdinglichten Objektivierungen, die in einem Museum ausgestellt werden, und hat erst dann intensives Interesse, als er auf geschichtliche Spuren des ersten, großen gesamteuropäischen Aufstands der Arbeiter:innenklasse stößt. Er war gerade deshalb fasziniert, weil er diese Objektivierungen als Repräsentationen erkannte, als Verbindungen innerhalb des konkreten Klassenkampfes, an dem er selbst lebendig und kämpferisch beteiligt war: „Für ihn war es ein lebendiger Teil des Kampfes.“ Lenin wusste, dass es Lehren gibt, die durch diese Objektivierungen vermittelt werden, die wir ableiten müssen und die uns helfen, unsere eigene Rolle in demselben Kampf voranzubringen. Auf diese Weise widerstand er dem Versuch des Museums, diesen spezifisch proletarischen und lebendigen Teil unseres Kampfes in der größeren „Buntheit und dem Durcheinander“ einer abstrakten Geschichtsschreibung untergehen zu lassen.
Für das Proletariat müssen die gesellschaftlichen Produkte unseres Klassenkampfes als Kristalle eben dieses Kampfes verstanden werden, deren Studium kein Selbstzweck sein darf, sondern vielmehr im Dienste der Fortführung dieses Kampfes auf einer höheren Stufe stehen muss, bereichert durch die Lehren aus den vorangegangenen Etappen, ihren Siegen und Niederlagen. Die kommunistische Bewegung muss die objektivierten Formen ihres Kampfes als Vermittlungen begreifen, als Verbindungen des Klassenkampfes, die sich im Laufe der Zeit zur verdichteten Struktur der Geschichte der kommunistischen Bewegung entwickeln – so wie Lenin sie in dem obigen Beispiel richtig begriffen hat. Richtig verstanden, können wir daraus die entstehende proletarische Geschichte entsprechend ihrem tatsächlichen Charakter und Inhalt gestalten und sie in den Dienst des Klassenkampfes stellen. Auf diese Weise kann die Arbeiter:innenklasse ihre eigene Wissenschaft weiterentwickeln und ihr Klassenbewusstsein stärken, indem sie sich nicht nur der Geschichtlichkeit der bürgerlichen Gesellschaft, sondern auch ihres eigenen Kampfes bewusst wird. Es wird deutlich werden, dass die Arbeiter:innenklasse nicht nur die Fähigkeit hat, die Welt zu verändern, sondern dass sie dies bereits getan hat, dass sie sich dabei selbst verändert und entwickelt und die Geschichtlichkeit der bürgerlichen Gesellschaft aufgezeigt hat. Der Begriff des Kommunismus wurde innerhalb der widersprüchlichen Tendenzen der bürgerlichen Gesellschaft selbst entdeckt; diese Tendenzen wurden durch den Klassenkampf aufgegriffen und weiterentwickelt. Der utopische Begriff des Kommunismus wurde so in einen materialistischen Begriff verwandelt, der durch den Klassenkampf verwirklicht und zunehmend konkretisiert und bereichert wird. Dieser Prozess der Konkretisierung ist auch der Prozess der Entwicklung der Wissenschaft des Klassenkampfes, des Marxismus.
Die Tatsache, dass dieser qualitative Sprung zustande gekommen ist, ist eine wirkliche wissenschaftliche Leistung. Gleichzeitig birgt die kristalisierte Form, die diese Geschichte annimmt, die Gefahren des Geschichtsfetischismus und seiner Verstärkung durch den Warenfetischismus. Sobald ein bestimmter Kampf innerhalb des kontinuierlichen Klassenkampfes in die nächste Phase übergegangen ist, bleibt von ihm nur noch seine Repräsentation in den Objekten übrig, die als Ausdruck des Prozesses produziert worden sind. Der Klassenkampf nimmt notwendigerweise eine objektivierte Form an — die Gefahr des Geschichtsfetischismus ist also eines seiner organischen Produkte.
Kehren wir zum Beispiel „Was tun?“ zurück. Lenin schrieb das Buch im Kampf um eine qualitativ höhere Organisationsform der kommunistischen Partei und eine verbesserte Theorie des Klassenbewusstseins; er schrieb es inmitten intensiver Klassenkämpfe im damaligen Russland, verwoben mit komplexen und schwierigen ideologischen Kämpfen. Was wir geschichtlich hiervon erhalten, ist das Buch selbst sowie Geschichtsbücher, die das soziale und ideologische Milieu des Buches kontextualisieren. Was für uns wichtig ist, ist der Klassenkampf, der in dem Buch zum Ausdruck kommt, die allgemeinen Lehren, aber auch deren Grenzen, die durch das Buch vermittelt werden. Was für uns nicht wichtig ist, ist das Buch als Objekt, das Buch als Vorwand für ein angeblich uninteressiertes akademisches Zerkauen. Und wenn wir aus dem Buch lernen wollen, können wir es auch nicht in seinem unmittelbaren sozio-historischen Milieu belassen. Wir müssen den geschichtlichen Blick erweitern, die Kämpfe untersuchen, die das Buch geprägt haben, sowie diejenigen, die das Buch selbst prägte und in denen seine Theorie auf die Probe gestellt wurde. Geschichtsfetischismus würde uns daran hindern. Er würde dazu führen, dass wir das Objekt nur bewundern oder seine Lehren unkritisch verdinglichen.
Da die Arbeiter:innenklasse in der bürgerlichen Gesellschaft lebt – sie ist der bürgerlichen Hegemonie unterworfen und steht unter dem ständigen Einfluss der Reproduktion und Aufrechterhaltung der herrschenden bürgerlichen Ideen – ist ihr Denken auf ‚natürliche‘ Weise in den Phänomenen des Geschichts- und Warenfetischismus gefangen und muss sich aktiv von ihnen befreien. Was Vermittlung sein soll, kann zur Verdinglichung werden, selbst in den Gedanken des Proletariats. Die Verdinglichung als Vermittlung zu begreifen, würde bedeuten, dass wir sie als Produkt des Klassenkampfes anerkennen, das für die Aufrechterhaltung des Klassenkampfes als eines der Verbindungsglieder in seiner Kette geschaffen wurde. Die Verdinglichung hingegen führt uns in eine Sackgasse. Die Form des Objekts wird mit seinem Inhalt verwechselt, wir werden von ihm abgelenkt und es führt uns weg vom Klassenkampf in die Studierzimmer oder, noch schlimmer, in das feindliche Lager.
Bevor wir den Geschichtsfetischismus etwas genauer analysieren, werden wir uns mit seiner geschichtlichen Entwicklung befassen. Die Analyse wird sich insbesondere auf den europäischen Kampf konzentrieren, da wir mit diesem am besten vertraut sind und das Problem dort wohl am akutesten ist, aus Gründen, die diese Untersuchungen eben beleuchten sollen.

Klassenkampf und Geschichtsfetischismus

Zu Marx und Engels’ Lebzeiten waren einige der verbliebenen utopischen Sozialist:innen zwar dogmatisch, insgesamt war die Gefahr von Dogmatismus und Geschichtsfetischismus aber gering. Die Arbeiter:innenklasse in Europa hatte gerade erst die wissenschaftliche Stufe des Klassenkampfes erreicht und Marx und Engels wussten, dass ihre Theorie nur der bewusste theoretische Ausdruck des Klassenkampfes des Proletariats war7. Allerdings traten schon damals zwei Probleme auf, die später zum Dogmatismus führen sollten. Zunächst wurden einige Schlüsseltexte, in denen die schöpferische methodische Seite des Marxismus besonders deutlich wird (‚Die deutsche Ideologie‘, ‚Theorien über den Mehrwert‘, die ‚Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie‘), erst lange nach Marx und Engels’ Tod veröffentlicht. Hinzu kam, dass die Popularisierungen der Engels‘schen Texte (insbesondere Anti-Dühring und ‚Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie‘) von der Arbeiter:innenbewegung nicht als solche verstanden wurden. Vielmehr wurden sie als umfassende Darstellungen einer geschlossenen Theorie aufgefasst, nicht als popularisierte Grundlagen eines revolutionären, sozial-wissenschaftlichen Forschungsprojekts.
Die Tradition der Zweiten Internationale beruhte bereits auf diesem dogmatischen Verständnis der marxistischen Theorie. Sie nahm eine Menge organisatorischer Arbeit in Angriff, baute Parteien und Massenorganisationen auf, veröffentlichte Bücher und organisierte Freizeit- und Kulturaktivitäten – kurz, sie produzierte eine umfassende, relativ eigenständige kulturelle Sphäre des Sozialismus innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft8. Aber sie versäumte es, die theoretischen Ausdrücke dieser qualitativ neuen organisatorischen Entwicklungen auf dem notwendigen Niveau weiterzuentwickeln. Es kam zu einer Entfremdung von Theorie und Praxis, da die Theorie hinter der realen Bewegung zurückblieb9. Insbesondere fehlte es ihr am richtigen Verständnis der marxistischen Methode. Mechanisches und metaphysisches Denken waren weit verbreitet und hinderte die Anführer:innen, ihre Theorie qualitativ weiterzuentwickeln10. Bernstein, als Systematiker einer revisionistischen Strömung, die seit langem innerhalb der größeren europäischen Arbeiter:innenbewegung wuchs, griff Marx dann auf zwei Ebenen an: 1) reduzierte er Marx auf eine bestimmte Reihe von Vorhersagen; 2) griff er die Methode von Marx an, insbesondere die Dialektik. Der Fehler, die marxistische Methode nicht zu verstehen, verwandelte sich so in eine völlige Ablehnung derselben. Indem Marx’ Werk zu einer Reihe von Vorhersagen verdinglicht wurde, wurde er zu einem geschichtlichen Fetisch11. Dies unterstützte einen weiteren Fetischismus – den Personenkult. Zu dieser Zeit gab es in der deutschen Arbeiter:innenbewegung sowohl einen Personenkult um Marx als auch einen um Lassalle. In beiden Fällen ersetzte der Fetisch das reale Wesen der Menschen, was es den Fetischist:innen ermöglichte, ihren Fetisch mit beliebigen Inhalten zu füllen. Für Kautsky wurde Marx später fast ein gewöhnlicher Liberaler, was seine eigene Verwandlung widerspiegelte. Die schlimmste Auswirkung dieser Tendenz war der Sieg der Bourgeoisie über die Revolutionen nach dem Ersten Weltkrieg, wie etwa die Zerstörung der Novemberrevolution 1918/19 durch die deutschen Sozialdemokrat:innen12.
Gegen diese allgemeine Tendenz zu fetischistischen Denkformen gab es in Europa vor allem drei führende Persönlichkeiten, die ihr entkamen und sie bekämpften: Luxemburg, Lenin und Gramsci. Was alle drei eint, ist ihr Verständnis der marxistischen Methode, ihre Ablehnung des Dogmatismus und ihre kreativen Entwicklungen der marxistischen Theorie. Sie alle mussten auf die Vergangenheit blicken, um voranzukommen, ob zurück zu Marx, dem Urkommunismus und der ursprünglichen Akkumulation, zurück zu Hegel oder (im Fall von Gramsci) zurück zu Lenin. Keiner von ihnen verlor sich im fetischistischen Sog, der von einer solchen historischen Reflexion ausging.
Luxemburg war die erste, die den Kampf gegen Dogmatismus und Revisionismus aufnahm. Sie bekämpfte insbesondere eine Form des Geschichtsfetischismus in ihrer Theorie des Urkommunismus. Hier verwies sie auf die erkenntnistheoretischen Gründe (die im Klassenkampf wurzeln), des Angriffs der Bourgeoisie auf die Anerkennung dieser universellen Stufe der menschlichen Entwicklung. Sie argumentierte, dass die Bourgeoisie nach der Revolution von 1848 reaktionär wurde und der Aufstieg der Arbeiter:innenbewegung mit der Pariser Kommune seinen ersten Höhepunkt fand. Mehr als es ihr bewusst war, spürte die Bourgeoisie die Verbindung zwischen Luxemburgs Theorie des Urkommunismus und des nachkapitalistischen Kommunismus sowie deren Implikation. Der Urkommunismus in Verbindung mit dem Kommunismus bedeutete, dass die bürgerliche Gesellschaft nur ein historisches Übergangsstadium war, dass es Gesellschaftsformen jenseits des Privateigentums gab und wieder geben kann. Diese Einsicht musste den Arbeiter:innen genommen werden, damit diese keine gefährlichen Schlüsse zogen13. Diese Einsichten Luxemburgs stehen in direktem Zusammenhang mit ihrer Theoretisierung des Imperialismus. Es waren ihre Studien über die Entwicklung des Kapitalismus, ihre Beschäftigung mit ‚Das Kapital, Band II‘, und der Kampf gegen den Dogmatismus, die sie auf diesen Weg brachten. Die Probleme ihrer Imperialismustheorie sind intensiv diskutiert worden, aber der für uns wichtige Aspekt ist ihr antidogmatischer Impuls und die dahinter stehende Methode die die geschichtliche Fetischisierung sowohl von Marx als auch des Klassenkampfes vermeidet14.
In seinen Weiterentwicklungen des Marxismus war Lenin am gründlichsten. Er fand die tiefliegenden Wurzeln der Verwandlung der Zweiten Internationale aus der Vorhut des Proletariats in ihr direktes Gegenteil im Eintritt des Kapitalismus in sein imperialistisches Stadium. Diese Einsicht war das Ergebnis eines fortgeschrittenen Verständnisses der marxistischen Methode, das durch umfassende Studien der Entwicklungen der Weltwirtschaft und durch die Entmystifizierung der Hegelschen Logik erreicht wurde. Die Gefahr, sich zu verirren, war besonders groß, denn Hegel galt damals als toter Hund, als alter, längst überwundener metaphysischer Vernebler – und sicher nicht als aktuell für den Klassenkampf. Und doch war Lenin in der Lage, Lehren aus Hegels Dialektik zu ziehen – nicht nur, indem er sie anpasste. Vielmehr strukturierte er sie materialistisch um. So wie es Marx vor ihm in seinen Frühwerken getan hatte, die Lenin größtenteils nicht kennen konnte. Für Lenin waren Marx und Engels keine alten Fetische, sondern lebendige Mitstreiter im Klassenkampf, die man nicht wegen irgendwelcher Dogmen, sondern zur methodischen Anleitung, zur kreativen Weiterentwicklung entlang der Notwendigkeiten der Klassenkämpfe zu Lenins Zeit konsultierte.
Gramscis wichtigster Kampf gegen den Geschichtsfetischismus war der gegen die Fetischisierung Lenins und der Oktoberrevolution. Er nahm Lenins Hinweise, dass die Revolutionen in den fortgeschrittenen imperialistischen Ländern ihre eigene revolutionäre Strategie entwickeln müssten, ernst. Hierbei lehnte er den Personenkult ab, der sich um Lenin entwickelte und der die Klassenkämpfe, die sein Denken vermittelte, verdinglichte. Gramsci erkannte, dass die Revolution in den imperialistischen Ländern kein schnelles Ereignis sein konnte, das aus einem Krisenmoment, einem Bewegungskrieg, hervorging, sondern dass sie mit der Stärke der bürgerlichen Gesellschaft, der größeren Macht des Staates und den komplexeren ideologischen und Klassenstrukturen dieser Länder rechnen musste – dass die Revolution die Form eines Stellungskrieges annehmen würde. Eines langen Prozesses des Kampfes um die Hegemonie in allen Bereichen der Gesellschaft, einschließlich des illegalen und militärischen Weges, aber nicht reduziert auf diese Aspekte. Wie Lenin und Luxemburg sich auf Marx und Engels als Mitkämpfer in diesem Kampf bezogen, so bezog sich Gramsci auf Lenin.
Bevor wir die Zeit der „Neuen Kommunistischen Bewegung“ und unsere eigene weiter untersuchen und dabei den Verrat und die Verdrehungen auslassen, denen alle drei der oben betrachteten fortschrittlichsten Anführer:innen unserer Klasse in Europa ausgesetzt waren, werfen wir einen tieferen Blick auf den Geschichtsfetischismus. Dies wird uns helfen, besser zu verstehen, wie er funktioniert und wie es möglich ist, dass er solch vollständige Verwandlungen hervorrufen kann, wie es im Fall der Parteien und Führer:innen der Zweiten Internationale der Fall war.

Die Logik des Geschichtsfetischismus

Sobald das Proletariat Objektivierungen seines Klassenkampfes produziert hat, können diese Objekte nicht nur von unserer Klasse aufgenommen, sondern auch von der Bourgeoisie sich angeeignet werden. Dies ist der erste Moment der Entfremdung. Bürgerlichen Ideologen betrachten Geschichte jedoch durch die Augen der Bourgeoisie. Wenn sie proletarische Objektivierungen, wie eine Zeitung oder ein Geschichtsbuch, einen Dokumentar- oder einen Spielfilm aufgreifen und daraus eine allgemeinere Geschichtsschreibung formen, dann geben sie ihnen eine bestimmte Form. Sie erfassen das Objekt nur in seiner bloß objektivierten Seite, nicht die gesellschaftlichen Verhältnisse, die es vermittelt, und richten es auf die Ideen und Objektivierungen der Bourgeoisie aus. Der konkrete proletarische Charakter der proletarischen Objektivierungen wird so in einer allgemeinen historischen Erzählung aufgelöst, die von der bürgerlichen Perspektive ausgeht, sich aber wertneutral darstellt15. Das ist größtenteils keine böse Absicht, sondern echte Ideologie von Ideologen16. Sie sind sich womöglich nicht bewusst, was sie tun, und denken vielleicht sogar, dass sie vor Ideologie gefeit sind, indem sie einfach jede bestimmte Ideologie ablehnen. Aber Ideologie ist nicht etwas, das bewusst gewählt wird. Sie setzt sich als Ergebnis der Arbeitsteilung, bestimmter sozialer Verhältnisse und Praktiken sowie des Klassenkampfes durch. Und die bürgerlichen Ideolog:innen sind durch ihr auskömmliches Leben darin mit der bürgerlichen Gesellschaft verbunden. Bürgerliche Ideologie ist der organische Ausdruck dieses Bewusstseins17.
Die Formen, in die die bürgerliche Ideologie die Objektivierungen presst, entsprechen ihrem Klasseninteresse. Oberflächlich betrachtet, wird die Geschichte, die aus den proletarischen Objektivierungen entsteht, unvermittelt von der bürgerlichen Perspektive ausgehen; sie wird als Erzählung eines bestimmten Typs mit Anfang, Mitte und Ende geformt, deren Positionen ideologisch bestimmt sind. Sie wird eine eine falsche Lösung haben; sie wird den Klassenkampf von vornherein zur Fiktion oder zu einer Sache der Vergangenheit erklären. Waren es ursprünglich bürgerliche Historiker wie Guizot, Thierry oder Mignot, die Klasse und Klassenkampf entdeckten, so verwirren ihre bürgerlichen Nachkommen, die heutigen Ideolog:innen, den Begriff der Klasse, leugnen den Klassenkampf oder sogar die Existenz von Klassen überhaupt18.
Da sich der erkenntnistheoretische (oder intellektuelle) Horizont der Bourgeoisie nach der Gründung der letzten großen europäischen Nationalstaaten und dem Aufstieg und der Zerstörung der Pariser Kommune 1871 verengt hat, kann diese Klasse qualitative gesellschaftliche Veränderung nicht mehr begreifen. Die Geschichte der Klassenkämpfe wird und kann also nicht als Kampf für qualitative Veränderungen, für die Überwindung der bürgerlichen Gesellschaft und für den Aufbau einer kommunistischen Gesellschaft verstanden werden. Innerhalb des bürgerlichen Bewusstseins müssen diese Kämpfe entweder naiv utopisch oder reformistisch erscheinen. Die Abstumpfung vieler dieser Kämpfe zum Reformismus und der Verlust der revolutionären Seite im dialektischen Verhältnis von Reform und Revolution machen diesen Fehler nur umso leichter19.
Auf der methodischen Ebene kommt dies in der Teleologie zum Ausdruck, der Vorstellung, dass die Entwicklung von Anfang an auf ein Ziel ausgerichtet ist. Welche Gesellschaftsformationen auch immer untersucht werden, sie werden immer anhand dieser Denkweise wahrgenommen. Konkret wird die bürgerliche Gesellschaft zum Ursprung und Endergebnis aller Gesellschaftsformationen und Kämpfe für qualitative Veränderungen erklärt. Wenn die kommunistische Bewegung in einem ihrer Kämpfe eine Niederlage erleidet, so wird diese Niederlage als unvermeidlich und der Kampf als von vornherein zum Scheitern verurteilt angesehen – so als gäbe es nichts qualitativ Neues jenseits des Horizonts der bürgerlichen Gesellschaft. Das bürgerliche Denken und seine Ideolog:innen unterstellen, dass im proletarischen Klassenkampf unbewusst das immer schon innerlich gegebene Ziel der bürgerlichen Gesellschaft liege. Der Kapitalismus muss aus jedem Kampf unvermeidlich wieder und wieder neu geboren werden.
Die notwendige Voraussetzung für diese ideologische Verformung ist, dass die historischen proletarischen Objektivierungen bereits entfremdet sind und daher auf fetischistische Weise aufgefasst werden, wobei die wirklichen gesellschaftlichen Verhältnisse hinter ihrer Erscheinung verborgen sind.
Als zweites Moment der Entfremdung verstärkt der Warenfetischismus den Geschichtsfetischismus in doppelter Hinsicht. Zum einen sind die meisten Produkte des Klassenkampfes ebenfalls Waren, da die Produktion von Objektivierungen in der bürgerlichen Gesellschaft stattfindet. Die wirklichen gesellschaftlichen Verhältnisse, die sie ausdrücken, und die gesellschaftlichen Kräfte, die zu ihrer Produktion notwendig waren, erscheinen uns bereits als Objekte, da sie uns durch das Privateigentumsverhältnis entfremdet sind. Lenin musste ‚Was tun?‘ als Ware produzieren, um die Ideen und Kämpfe, die er zum Ausdruck bringt, zu reproduzieren. Um diese Objektivierungen zu produzieren müssen wir nicht nur Klassenkampf objektivieren, sondern auch unsere Arbeitskraft entfremden, solange wir den Kapitalismus nicht überwunden haben. Das bedeutet, dass beide gesellschaftlichen Kräfte, die Arbeitskraft und der Klassenkampf, Gefahr laufen, mit der Ware selbst oder mit den Verhältnissen zwischen den Waren verwechselt zu werden. Diese konkreten sozialen Kräfte können als natürliche Eigenschaften der abstrakt gefassten Wirklichkeit selbst erscheinen. Damit werden diese gesellschaftlichen Verhältnisse selbst verdinglicht, obwohl sie eigentlich geschichtlich vorübergehende Erscheinungsformen der bürgerlichen Gesellschaft sind. Die Bedeutungen, die bürgerliche Ideolog:innen den Objektivierungen des proletarischen Klassenkampfes gegeben haben, werden dadurch ebenfalls verdinglicht. Wir akzeptieren ihre Methode oder sogar bestimmte Interpretationen unserer Geschichte und verlieren dabei ihre wahre Bedeutung in der bürgerlichen Geschichtsschreibung und durch ihre objektivierte Erscheinung als Waren aus den Augen20.
Der Warenfetischismus wirkt sich auf den Geschichtsfetischismus noch in einem anderen Aspekt aus, nämlich in der Art des Denkens. Da die Warenproduktion innerhalb der bürgerlichen Ordnung universell ist, wird unser Denken selbst von ihr geprägt. Je mehr die gesellschaftlichen Verhältnisse zu Waren werden, desto mehr erscheinen sie als Verhältnisse zwischen Geld und Waren. Die einheitliche gesellschaftliche Totalität wird so in Tauschakte zwischen Geld und Waren zerlegt. Da dies unser universelles Verhalten zueinander ist, drückt unser Denken diese Verhältnisse aus21. Dialektisches Denken wird zu mechanischem reduziert. Dieses bewegt sich quantitativ, ohne einheitliche, universelle Verhältnisse oder qualitative Sprünge. Wir tendieren also dazu, unseren Objektivierungen bereits auf diese nicht-dialektische Weise zu begegnen, so dass die wirklichen dialektischen Prozesse, die durch die Objekte vermittelt werden (also der Klassenkampf um den Kommunismus, eine qualitativ neue Gesellschaftsformation), wegen der Verformung unseres Denkens durch die bürgerliche Gesellschaft, vor uns verborgen bleiben.
Der Geschichtsfetischismus hat auch einen Anteil an der Reproduktion des Patriarchats in seiner bürgerlichen, d.h. seiner entwickelsten Form. Dabei ist zunächst zu differenzieren, dass sich das Phänomen nicht auf den Einfluss des Bürgertums auf die Arbeiter:innenklasse reduzieren lässt. Denn das Patriarchat geht dem Kapital voraus und ist über die Jahrtausende in die gesellschaftlichen Verhältnisse aller Produktionsweisen, aller Klassengesellschaften, und damit tief in die Subjektivität aller Klassen eingesunken. Der Kapitalismus gliedert die patriarchalen Verhältnisse in seine konkrete gesellschaftliche Totalität ein, subsumiert sie dem Kapital-Verhältnis und spannt das Patriarchat dergestalt in seine Zwecke ein. Damit gehen Kapital und Patriarchat eine intime, in der Tat eine unzertrennliche Bindung ein. Wir können mithin weder das Patriarchat noch den Kapitalismus getrennt voneinander überwinden. Die proletarische Revolution muss zugleich die Frauenrevolution sein – und dennoch bildet diese Einheit keine Identität, wie die historischen Kämpfe zu genüge zeigen22.
Die Reproduktion des Patriarchats durch die bürgerliche Historiographie können wir an zwei grundlegenden Aspekten und ihren methodologischen Folgen beleuchten. Zunächst ist es genau das bürgerliche Klassenverhältnis der Ideolog:innen, die die entfremdeten Objektivierungen der Frauenarbeiterinnen formen, das auch das Patriarchat verdinglicht. Da Kapital und Patriarchat untrennbar verbunden sind, das Patriarchat eine wesentliche Vermittlung in der Kapitalakkumulation bildet, ist auch die patriarchale Perspektive der Ideolog:innen mit ihrem Klassenstandpunkt gesetzt. Selbst wen es sich dabei um Ideologinnen handelt, kann auch ihr ernsthaftestes Bemühen für die Frauenbefreiung nicht die Schranken des bürgerlichen Klassenverhältnisses überspringen – konsequente antipatriarchale Geschichtsforschung setzt das gesellschaftliche Verhältnis des Proletariats voraus, ohne durch dasselbe bereits gegeben zu sein. Indem etwa eine feministische bürgerliche Ideologin den Standpunkt genau der bürgerlichen Frauen einnimmt wird sie, im offensichtlichsten Sinn, die Perspektive der unterdrückten und ausgebeuteten Frauen entweder ignorieren oder sie schlicht mit dem Bewusstsein der bürgerlichen Frauen identifizieren. Noch tiefliegender aber wird sie die konkreten Formen, die das Patriarchat in seiner Vermählung mit dem Kapital angenommen hat, in die Vergangenheit projizieren und so einerseits eben die bürgerliche Form des Patriarchats verdinglichen und andererseits die Kontrastierung mit anderen Formen und damit den Nachweis der Historizität des Patriarchats nicht erbringen können23. Das kann dann auch die Form annehmen, dass das Patriarchat, wo es noch nicht unter das Kapital subsumiert war, schlicht nicht gesehen und dann beispielsweise im Feudalismus geleugnet wird. Das verdinglichte Denken der bürgerlichen Ideolog:innen verdinglicht auch hier bestimmte gesellschaftliche Verhältnisse und wird gleichsam blind gegen ihre Negation oder kann diese Negation nur als absolute Negation, also als bloße Vernichtung denken. So überträgt der Geschichtsfetischismus auch die bürgerliche Form des Patriarchats in das proletarische Bewusstsein.
Aber, und das ist der andere Aspekt, der Geschichtsfetischismus trifft im proletarischen Bewusstsein bereits auf ein bestelltes Feld. Das Patriarchat hat es sich in der proletarischen Persönlichkeit längst schon heimisch gemacht. Das freilich mit unterschiedlichen Formbestimmungen zwischen den Geschlechtern, und doch finden wir es in uns selbst verankert. Die spezifische Differenz zwischen dem Patriarchat, wie es sich im proletarischen und im bürgerlichen Bewusstsein ausbildet, besteht darin, dass es im proletarischen Bewusstsein im Widerspruch mit der Tendenz auf das Universelle steht. Als Klasse kann sich das Proletariat nur durch die Überwindung aller Unterdrückungs- und Ausbeutungsverhältnisse befreien, dazu zählt wesentlich auch das Patriarchat. Der Kampf gegen das Patriarchat hat in unserer Klasse also eine doppelte Richtung: er richtet sich gegen die konkrete bürgerliche Form, wie sie uns im Kapitalismus, in unseren alltäglichen zwischenmenschlichen Verhältnissen, umgibt, in uns haust und wie wir sie selbst reproduzieren24. Und er richtet sich zugleich gegen die Verdinglichung dieser bürgerlichen Form des Patriarchats, wie sie uns etwa durch den Geschichtsfetischismus transportiert wird – ein Transportationsprozess, der uns gerade im Kampf um unser Klassenbewusstsein, also in der Aneignung unserer eigenen proletarischen Geschichte, um so heftiger mitzureißen droht. Weil die verdinglichte bürgerliche Form des Patriarchats dabei auf die patriarchale Prägung in unserer Persönlichkeit zurückgreifen kann und weil das Patriarchat selbst Teil der historischen Kämpfe der Arbeiter:innenklasse ist, ist diese Gefahr und ihre Unsichtbarkeit hier noch ausgeprägter. So ist es wenig verwunderlich – wenngleich auch nicht zu entschulden – dass sich das Patriarchat so lange so ungehindert in unserer Klasse reproduzieren konnte. Ein scheinbar triviales Beispiel ist das Gendern in historiographischen Texten. Damit wird, eben auch in Texten der Arbeiter:innenbewegung, die Frau als historisches Subjekt unsichtbar gemacht und der Bewusstseinsbildungsprozess, den eine adäquate Geschichtsforschung bieten würde, gehemmt. Und zwar gehemmt für proletarische Männer und Frauen sowohl hinsichtlich des Klassen- wie des Geschlechtsbewusstseins. Denn es gerät damit auch die komplexe Dialektik von Frauen- und proletarischer Revolution und die begriffliche wie praktische Arbeit, die hier noch zu leisten ist, aus dem Blick, womit zugleich bürgerlichen Lösungsansätzen der Boden in unserer Klasse bereitet wird. Wir können keine revolutionäre Alternative anbieten, wenn wir noch nicht einmal das notwendige Problembewusstsein entwickelt haben, wenn unser Bewusstsein selbst noch so tief von Geschichtsfetischismus und dem Patriarchat geprägt ist.
Die Arbeiter:innenklasse wird von der Geschichte unserer Klassenkämpfe angezogen. Wir suchen Selbst- d.h. Klassenbewusstsein. Um den heutigen Klassenkampf voranzutreiben wollen wir die möglichen universellen Aspekte ausfindig machen, die in der Geschichte dieses Kampfes verborgen liegen könnten. Was wir vorfinden, ist eine von den bürgerlichen Ideolog:innen verformte Geschichte, die sich mit den fetischistischen Tendenzen verbindet, die sich aus der ideologischen Hegemonie der Bourgeoisie und aus dem Prozess der Warenproduktion ergeben. Die Geschichte der kommunistischen Bewegung muss also entmystifiziert werden; es muss eine theoretische Anstrengung unternommen werden, um die verdinglichten Objektivierungen wieder in Vermittlungen zu verwandeln, die in den proletarischen Klassenkampf zurückführen und ihn voranbringen. Der daraus resultierende Kampf um Ideen kann dann zum Selbstzweck verkommen und in einen Entfremdungsprozess vom Klassenkampf eintreten. Es entwickelt sich eine Dynamik, bei der sich der eigentliche Kampf, dem diese Entmystifizierung dienen soll, in einen sich ständig wiederholenden ideologischen Kampf um die richtige Interpretation der Ereignisse verwandeln kann. Die Interpretier:innen fangen an, sich untereinander zu streiten, ohne Bezug zum aktuellen Klassenkampf. Die proletarische Intellektuelle kann sich in den Schlingfallen dieses ideologischen Kampfes verheddern und nicht mehr zum wirklichen Klassenkampf zurückfinden, was sie ebenfalls immer unbeweglicher macht, da sie die universellen Aspekte und die Erkenntnisse, nach denen sie eigentlich suchen wollte, nicht testen kann. Statt die verdinglichten Objektivierungen zu entmystifizieren, vertiefen sie am Ende nur die Verdinglichung und geraten in den Sog des Geschichtsfetischismus. In diesem Fall wird der Kampf um die reale Geschichte des proletarischen Klassenkampfes zu einem rein ideologischen Kampf um die intellektuelle Aneignung verschiedener Formen der fetischisierten Geschichte.
Die Gefahr, im Geschichtsfetischismus zu enden, besteht darin, dass die letzten Endes idealistische bürgerliche Methode übernommen wird, ohne dass diejenigen, die dem fetischistischen Effekt zum Opfer fallen, sich dessen bewusst sind. Die fetischistischen Denkweisen werden von der bürgerlichen Geschichtsschreibung, die die bürgerlichen Ideolog:innen produzieren, in das proletarische Bewusstsein übertragen. Selbst im Kampf gegen die fetischisierten Formen der proletarischen Geschichte schlummert die Tendenz, diese Formen einfach zu übernehmen. Die Methode und Struktur, die die Bourgeoisie ihr gegeben hat, zu akzeptieren. Und tatsächlich können wir dies ziemlich häufig beobachten. Was eigentlich eine marxistische Analyse sein soll, sinkt zu einem Kampf für oder gegen die Interpretationen dieser oder jener Anführer:in herab. Auf diese Weise wird die Theorie ‚großer Männer der Geschichte‘ aus dem bürgerlichen Bewusstsein naiverweise aufgegriffen, während der Klassenkampf, das eigentliche Wesen der Geschichte, liegen bleibt. Die ständige Verteidigung Stalins oder Maos gegen die Verzerrungen der bürgerlichen Geschichtsschreibung wird zum Selbstzweck. Die Klassenkräfte und -kämpfe, für die diese Namen stehen, gehen nicht nur hinter den Namen verloren, die Namen entkernen diese Kämpfe. Es scheint, als ob diese Anführer der Arbeiter:innenklasse wirklich die allmächtigen ‚großen Männer‘ waren, so wie sie von der bürgerlichen Ideologie dargestellt werden, und nicht menschliche Wesen, die wie alle anderen in Klassengesellschaften vom Klassenkampf bestimmt werden.
Auf ähnliche Weise begegnet uns die Wiederauferstehung des teleologischen Denkens, wenn etwa verkündet wird, dass das, was tatsächlich passiert ist, auch das einzig mögliche Ergebnis konkreter Revolutionen wäre: die Restauration des Kapitalismus, der Erfolg der Konterrevolution, die Niederlage und Ermordung der Revolutionär:innen. Auch hier wird Klassenkampf durch das schon immer angenommene innerlich-vorhandene Schicksal ersetzt: Niederlage und kapitalistische Restauration. Der Klassenkampf verschwindet hinter seiner fetischisierten Objektivierung. Die Geschichte kann dann nicht mehr als Vermittler des wirklichen Klassenkampfes dienen, aus ihr können keine anderen Lehren als die der Niederlage und der Ewigkeit der bürgerlichen Ordnung gezogen werden.
Die Kehrseite dieser teleologischen Denkweise kommt im quasi-religiösen Gerede von der ‚Unvermeidbarkeit des Kommunismus‘ zum Ausdruck. Die Notwendigkeit des Klassenkampfes verschwindet auch in dieser Vorstellung praktisch. Der Kommunismus ist eine Notwendigkeit, gerade in dem Sinne, dass er ein Weg ist, die Widersprüche der bürgerlichen Gesellschaft zu lösen, aber er ist weder ein automatisches Ergebnis dieser Widersprüche noch ihr einziges25. Der Kapitalismus kann die Menschheit durch die Umweltzerstörung, die er mit seiner unerbittlichen Überproduktion verursacht, genauso gut auslöschen. Das Proletariat muss die Notwendigkeit des Kommunismus erkennen, indem es seine Freiheit gegen die Einengungen der bürgerlichen Gesellschaft behauptet. Das heißt, wir müssen einen bewussten proletarischen Klassenkampf führen, der begreift, dass das Proletariat sich nur befreien kann, indem es alle Unterdrückten durch die dialektische Negation der bürgerlichen Gesellschaft als Weg zur Verwirklichung des Kommunismus befreit.
Mit dieser Übersetzung der fetischistischen Denkformen aus dem bürgerlichen in das proletarische Bewusstsein wird die allgemeine Verbindung zwischen Geschichtsfetischismus und Dogmatismus offensichtlich. Dogmatiker:innen und Geschichtsfetischist:innen teilen bestimmte methodologische Mängel: die Trennung von Theorie und Klassenkampf, die Betonung der Form gegenüber dem Inhalt, mechanische und metaphysische Denkweisen. In gewisser Weise ist das ein Zufall, denn die Dogmatiker:innen, die den lebendigen Bezug zum wirklichen Klassenkampf verlieren oder schon verloren haben, begegnen der Geschichte bereits mit diesen fetischistischen Denkformen. Andererseits können Dogmatiker:innen auch Produkte der oben skizzierten Übersetzungs- und Verwandlungsprozesse sein. Das heißt, wirkliche proletarische Revolutionär:innen können durch diesen Prozess des Geschichtsfetischismus zu Dogmatiker:innen werden. Sie fangen etwa an, die bürgerliche Geschichtsschreibung über die Arbeiter:innenklasse zu entmystifizieren, eine adäquate Geschichtsschreibung unserer eigenen Geschichte zu konstruieren, die Entwicklung des proletarischen Klassenbewusstseins zu unterstützen, aber sie verlieren sich dabei im Geschichtsfetischismus. Die ideologische Verformung dieser Geschichte durch die Bourgeoisie führt dazu, dass sich die Denkweise der wirklichen Revolutionär:innen verändert. Sie entfremden sich vom Klassenkampf. Vielleicht finden sie sich gegenüber der Arbeiter:innenklasse sogar in einer antagonistischen Position wieder, ohne sich dessen bewusst zu sein26.
Die gegenseitige Verstärkung von Geschichtsfetischismus und Dogmatismus wird noch deutlicher erkennbar, wenn wir bedenken, dass zu den geschichtlichen Produkten der Arbeiter:innenklasse auch die eigenen theoretischen Ausdrücke unserer Klassenkämpfe gehören. Schon während dieser Kämpfe reflektieren wir sie, produzieren Verallgemeinerungen und suchen anhand von Texten wie Lenins ‚Was tun?‘ nach den Universellen Aspekten der Ereignisse. Das wissenschaftliche Selbstbewusstsein des Proletariats, des klassenbewussten Teils der Arbeiter:innenklasse, wirkt als ein weiterer Sog in die Vergangenheit. Wir untersuchen die Theorien, die während vergangener Klassenkämpfe entstanden sind, und versuchen, uns selbst besser zu verstehen, indem wir aus den Lektionen lernen, die bereits während der Ereignisse selbst gezogen werden können. Die theoretischen Ausdrücke der wirklichen Bewegung werden selbst zu Objektivierungen und zu Objekten der retrospektiven Reflexion. Wenn man diese Erscheinungen nicht als Vermittlungen einer realen geschichtlichen Bewegung begreift, die unter den neuen und entwickelten gegenwärtigen Bedingungen konkretisiert werden müssen, können sie zu Geschichtsfetischen werden. Die Formen des Denkens, die im Geschichtsfetischismus zum Ausdruck kommen, werden dann in das dogmatische Bewusstsein übersetzt. Die ahnungslose Leserin wird in das Reich des vom Handeln entfremdeten Denkens – in das Dogma – versetzt. So kommt es zu einer direkten gegenseitigen Verstärkung von Geschichtsfetischismus und Dogmatismus, die sich beide ineinander verwandeln und dabei ihre Fehler vertiefen. Der theoretische Ausdruck der wirklichen Bewegung wird selbst zu einem Ort des Kampfes zwischen den Interpretierer:innen auf der Suche nach der wahren Doktrin, nach dem einzig wahren Weg, jene Theorie als solche zu verstehen. Wieder einmal verliert sich die Dogmatikerin im Reich der Abstraktion, genau wie die Geschichtsfetischistin, unfähig, ihre „wahre Doktrin“ im Klassenkampf zu erproben.
Da die Dogmatikerin ihre Ideologie in ihrem geschichtlichen Moment einfriert, verwandelt sie sie in einen toten Fetisch, und durch diesen Prozess bleibt sie selbst in dem fetischisierten Moment ideologisch stecken. Wir alle kennen die Marxist:innen bestimmter Strömungen, die sich so kleiden, als wären sie Lenin, Mao oder Trotzki selbst. Sie nehmen das Aussehen ihres Fetischs an; selbst auf dieser Ebene kann es zu einer Verwandlung in mumifizierte Personifikationen ihrer ideologischen Vorbilder kommen. Sie werden zu laufenden Zeitmaschinen, und auch ihre Texte lesen sich, als wären sie aus einer anderen Zeit und von einem anderen Ort ins Heute transportiert worden, eingehüllt von Phraseologie die wir nicht kennen und den spezifischen Problemen mit denen wird nichts zu tun haben.
Die Prozesse, die wir analysiert haben, das Phänomen des Geschichtsfetischismus, ziehen uns zurück in die Beschränkungen des bürgerlichen Denkens. Ohne es zu merken, entsteht durch die Ansammlung proletarischer Geschichte die Gefahr, die bürgerliche Ideologie und die metaphysische Denkweise genau in dem Moment wieder in das proletarische Bewusstsein zu übertragen, in dem der Marxismus uns die Mittel an die Hand gibt, sie sowohl geschichtlich als auch methodisch zu überwinden. Und es ist der Dogmatismus, bei dem die marxistische Theorie vom Kampf der Arbeiter:innenklasse entfremdet wird, der die Brücke zwischen dem proletarischen Bewusstsein und dem Geschichtsfetischismus und damit dem bürgerlichen Bewusstsein schlägt. In der Analyse der Geschichte der Arbeiter:innenklasse führt der fetischistische Begriff des Marxismus durch die Dogmatiker:innen organisch zum Geschichtsfetischismus. Es ist ein fließender Übergang vom Dogmatismus zum fetischistischen Begriff der proletarischen Objektivierungen. Und mit dem unwissentlichen Übergang zum bürgerlichen Bewusstsein wird die dogmatische Verstrickung ins Reich der Theorie oder des reinen Denkens verstärkt. Die Entfremdung der Dogmatiker:innen vom Klassenkampf vertieft sich und kann möglicherweise sogar in die konterrevolutionäre Politik der Bourgeoisie umschlagen. Es ist jedoch wichtig zu erkennen, dass dies ein unbewusster Prozess ist, aus dem zunächst ein nicht-antagonistischer Widerspruch entsteht, der sich in einen antagonistischen verwandeln kann, während selbst der Übergang zum antagonistischen Klassenstandpunkt denjenigen verborgen bleiben kann, die ihn durchlaufen haben. Schließlich handelt es sich um ein ideologisches Phänomen, das unbewusst stattfindet. Das müssen wir berücksichtigen, wenn wir über die Methoden nachdenken, mit denen wir das Problem angehen können.

Geschichtsfetischismus und der Klassenkampf heute

Nach der Niederlage der europäischen Revolutionen nach dem Ersten Weltkrieg und den Trümmern, die der Zweite Weltkrieg hinterlassen hatte, verschwand die Revolution in den unmittelbaren Nachkriegsjahren aus Europa. Das war die Zeit, in der der Imperialismus seine goldene Ära erlebte, die durch die Zerstörung des Kapitals durch den Krieg ermöglicht wurde. In diesen Jahren gelang es den europäischen Kommunistischen Parteien (KP), eine Massenbasis aufzubauen, die auf dem Vertrauen beruhte, das sie sich durch ihren Widerstand gegen den Faschismus erworben hatten. Die meisten dieser Parteien wurden jedoch sozialdemokratisch. Die italienische KP, die von Gramsci mitbegründet wurde, wurde von Gramscis ehemaligem Genossen Togliatti umgewandelt. Die deutsche KP durchlief den gleichen Wandel und wurde 1956 in Westdeutschland verboten. Schon zuvor war Rosa Luxemburg, ebenfalls Mitbegründerin der Partei, während der Bolschewisierung in den 1920-30er Jahren einseitig verunglimpft worden, so dass ein entscheidendes Kettenglied der Tradition der deutschen Arbeiter:innenbewegung zerbrochen wurde. Und die französische KP verfiel wieder in ihren alten Revisionismus, den sie während des Widerstands teilweise überwunden hatte. Ganz allgemein wurde die revolutionäre Tradition befriedet.
Mit den Ereignissen von 1968 begann eine neue Phase revolutionärer Möglichkeit, die Neue Kommunistische Bewegung (NKB). Ihre Wurzeln waren vielfältig: von der internationalen Situation mit Vietnamkrieg und kubanischer Revolution bis zu nationalen Befreiungsbewegungen in Afrika und der Kulturrevolution; von der strukturellen Krise des Kapitalismus als tiefer liegender Ursache bis zur Krise der bürgerlichen Kultur und der Bildungssysteme. All dies führte zu einer etwa ein Jahrzehnt andauernden Krisenära, die die Möglichkeit bot, in den imperialistischen Ländern wieder echte Vorhutparteien zu gründen. Die Neue Kommunistische Bewegung war genau dieser Versuch.
Diese Bewegung stand vor einer doppelten Herausforderung: die Verbindung mit der revolutionären Tradition wiederaufzunehmen, von der die Arbeiter:innenklasse abgetrennt worden war, und gleichzeitig den Revisionismus der etablierten KPs zu bekämpfen, ohne in Dogmatismus zu verfallen. Im Rückblick ist klar, dass die Aktiven dieser Periode an diesen beiden Aufgaben gescheitert sind. Die umfassende gesellschaftliche Krise ermöglichte es ihnen, trotz ihrer Unzulänglichkeiten Praxis zu entwickeln, d.h. eine Einheit von Massenaktion und Theorie, die sie leitet. Aber schließlich holte sie das Fehlen einer konkreten und kreativen Entwicklung ihrer Theorie und Praxis ein. Ein Teil der Bewegung zersplitterte in zahllose Sekten, die jeweils ihre einzig wahre Doktrin verteidigten, von denen keine als Grundlage für eine dauerhafte proletarische Praxis dienen konnte. Ein anderer Teil löste sich in revisionistische oder ganz und gar bürgerliche Parteien auf. Und ein letzter Teil fand als harmlose eklektische Akademiker:innen oder Funktionär:innen den Weg in die bürgerlichen ideologischen Staatsapparate.
Sie haben es nicht geschafft, einen sicheren und kreativen Begriff der marxistischen Methode zu entwickeln, um eine konkrete Analyse einer konkreten Situation zu produzieren und dadurch die Methode selbst voranzubringen. Sie haben es nicht geschafft, sich mit ihrer jeweiligen revolutionären Geschichte in einer Weise zu verbinden, die von den Notwendigkeiten des Klassenkampfes geleitet war. Diese Art der Verbindung hätte es ihnen ermöglicht, das Wesentliche vom Zufälligen zu unterscheiden und wichtige Lehren für die Klasse in ihrer Phase des Kampfes abzuleiten. Gramsci hätte sie vielleicht auf die Notwendigkeit aufmerksam machen können, Organisationsformen zu entwickeln, die einen langwierigen Stellungskrieg überdauern können, so hätten sie eine revolutionäre Tradition aufbauen können, die bis in unsere Gegenwart reicht. Luxemburg hätte sie auf die Notwendigkeit aufmerksam machen können, bürgerliche Geschichtsschreibung zu kritisieren, ohne sich in der Kritik selbst zu verlieren – sie hätte vermitteln können, wie es auch Mao tat, die Kreativität der Massen ernst zu nehmen und wie Lenin die sozialen Wurzeln des Revisionismus der sie umgebenden Parteien konkret aufzuspüren, um auf diese Weise ihre eigene Theorie und Methode zu entwickeln.
Das ist nicht passiert. Stattdessen verloren sich die Aktivist:innen der NKB in Geschichtsfetischismus und Dogmatismus27. Diejenigen, die in immer kleiner werdenden Sekten landeten, waren Opfer des eigentlichen Dogmatismus. Diejenigen, die in der Universität endeten (einige wurden zu postmodernen Ideolog:innen) waren Opfer des eklektischen Dogmatismus. Die meisten waren auf die eine oder andere Art vom Geschichtsfetischismus betroffen. Die erste Gruppe versteinerte Geschichte, baute Personenkulte auf und beschäftigte sich mit endlosen Neuinterpretationen und Verteidigungen der immer gleichen geschichtlichen Ereignisse. Die Eklektizist:innen gingen unbewusst zum bürgerlichen Bewusstsein über. Einige von ihnen schufen neue, vom Klassenkampf losgelöste Geschichtsschreibungen, selbst wenn diese als Kritik an der bürgerlichen Geschichtsschreibung gedacht waren. Eine Kontinuität der revolutionären Bewegung wurde nicht erreicht.
In den imperialistischen Ländern stehen wir heute vor dem gleichen Problem wie die NKB. Ohne lebendige revolutionäre Tradition müssen wir unsere abgerissene Geschichte erneut untersuchen und aufarbeiten. Obwohl die meisten revisionistischen Parteien entweder tot sind oder im Sterben liegen, stehen wir vor einem neuen Problem: In der ersten Stufe des Marxismus wurde die Bewegung im europäischen Zentrum des Kapitalismus der freien Konkurrenz entwickelt. Die zweite Stufe, der Marxismus-Leninismus, war bereits in die peripheren Länder des imperialistischen Systems vorgedrungen, und die Notwendigkeit, die Theorie im imperialistischen Kontext zu konkretisieren, wuchs. Nun erreicht uns die dritte Stufe, der Marxismus-Leninismus-Maoismus (MLM), aus einem Kontext heraus, der immer noch Teil des imperialistischen Systems ist, sich aber von der konkreten Situation in den Zentren des Imperialismus räumlich und zeitlich sehr unterscheidet. Nicht nur ist die Aufgabe der Konkretisierung dadurch größer, auch stammen viele der Lehren des Maoismus aus der Tiefe des sozialistischen Übergangs, so dass sie auch historisch weiter von uns entfernt sind28. Die Gefahr des Dogmatismus ist also größer – nämlich diese qualitativ neue Situation nicht zu begreifen – und die Notwendigkeit, die Theorie zu konkretisieren, ist noch dringlicher.
Es ist also kein Zufall, dass die ersten Schritte bei dem Versuch, mit der neuen Stufe der marxistischen Wissenschaft zu arbeiten, im imperialistischen Kontext zu dogmatischen Ergebnissen geführt haben. Wir sind der doppelten Gefahr des Geschichtsfetischismus und des Dogmatismus zum Opfer gefallen, ohne uns der Besonderheit dieser neuen Situation und der damit verbundenen neuen Gefahr bewusst zu sein. In dieser Situation und angesichts der Tatsache, dass die Bewegungen in den imperialistischen Ländern in der Wissenschaft des Marxismus und dem realen Klassenkampf entscheidend zurückgefallen sind, ist es von entscheidender Bedeutung, jede Form von Chauvinismus zu bekämpfen. Die objektive Notwendigkeit, echte Vorhutparteien wieder aufzubauen, wird immer offensichtlicher. Es scheint sich eine umfassende Krise zu entwickeln, tiefer noch als die Krise von ‚68. Diese subjektiven Probleme müssen wir unbedingt überwinden, wenn wir uns auf die Ebene der objektiven Situation begeben wollen.
Diese kurze Untersuchung des Phänomens des Geschichtsfetischismus sollte uns auf das Problem aufmerksam machen. Dafür sensibilisiert, sind wir bereits subjektiv gestärkt, wenn wir es ernst nehmen. Die Schlussfolgerungen, die wir daraus ziehen können, bestehen darin, unseren Begriff der marxistischen Methode zu vertiefen, aus unserer Geschichte zu lernen (nicht um ihrer selbst willen, sondern um das Bewusstsein unserer Klasse zu schärfen), unser konkretes Verständnis des Patriarchats und die Methoden zu seiner Überwindung zu entwickeln, den Klassenkampf voranzutreiben und den Herausforderungen zu begegnen, die uns unsere Situation stellt.
Geschichtlich gesehen waren die Gefahren von Dogmatismus und Geschichtsfetischismus am geringsten, wenn es eine lebendige revolutionäre Praxis gab. Jene Praxis sorgte für unseren Fokus auf den Klassenkampf. Durch sie widerstanden wir dem Vergessen, dass durch die Abstraktionen der Theorie und der bürgerlichen Geschichtsschreibung hervorgerufen wurde. Diese Schwäche ist kein Schicksal der gegebenen Situation. Eine Praxis muss erst noch geschaffen werden. Und das ist ein dialektischer Prozess, bei dem praktische und theoretische Untersuchungen in einer sich gegenseitig verstärkenden Einheit verbunden werden sollten. Wir müssen unsere Entfremdung von unserem gesellschaftlichen Milieu überwinden. Eine Entfremdung, die während des neoliberalen Interregnums29 unserer Tradition erheblich zugenommen hat. Wir überwinden sie, indem wir die wahren Probleme der tieferen Schichten der Arbeiter:innenklasse begreifen. Gleichzeitig müssen wir konkrete Analysen der Klassenstruktur, einen stark Vertieften Begriff vom Verhältnis von Frauen- und proletarischer Revolution, der Stärke des Staates, seiner ideologischen und repressiven Apparate, der Organisation seiner imperialistischen Strukturen, der daraus ableitbaren Mittel, Formen und Wege des Klassenkampfes, der dieser Situation angemessenen Parteiform usw. entwickeln. Und all das müssen wir unter der Anleitung der höchsten Form der Wissenschaft der Arbeiter:innenklasse tun: Dem Marxismus-Leninismus-Maoismus.
Das ist keine Aufgabe, die einfach nur theoretisch gelöst werden kann. Sie muss durch kollektive Anstrengungen bewältigt werden. Die Gruppen in den imperialistischen Ländern können sich dabei gegenseitig helfen, und die Lektionen, die sie hierbei ziehen, müssen ausgetauscht werden, um den revolutionären Prozess zu beschleunigen. Die Lektionen der fortdauernden Volkskriege auf den Philippinen und in Indien müssen noch gelernt und auf ihre Anwendbarkeit in der imperialistischen Situation untersucht werden. In ähnlicher Weise können die Lektionen, die wir in den imperialistischen Ländern ziehen können, den Kämpfen in den unterdrückten und ausgebeuteten Ländern helfen. In den meisten dieser Länder gibt es jetzt Metropolen, Vorposten der Imperialisten, mit ähnlichen, aber nicht identischen Bedingungen wie in den imperialistischen Ländern. Mit den notwendigen Anpassungen könnten die in den imperialistischen Ländern entwickelten Methoden in diesem Kontext potenziell reproduziert werden. Der proletarische Internationalismus ist somit ein wichtiges Bindeglied bei der Bekämpfung unserer subjektiven Probleme und der Beschleunigung unserer Entwicklung.

„Für eine revolutionäre Klasse wie das moderne Proletariat, die das Größte noch vor sich hat, sind geschichtliche Erinnerungstage nicht eine Gelegenheit, mit einem Blick auf die eigene Vergangenheit triumphierend zu konstatieren, „wie herrlich weit wir’s schon gebracht“ haben, sondern vor allem ein Anlaß zur Selbstkritik, zur Prüfung des Geleisteten und Verständigung über das zu Leistende.“30

 

  1. K. Murali, Critiquing Brahmanism (Paris: Foreign Languages Press, 2020), 1 [Eigene Übersetzung].
  2. In Deutschland meist als „K-Gruppen“ zusammengefasst. Als „Neue Kommunistische Bewegung“ aber ein weltweites Phänomen, in dem auch die Vorgeschichte um 1968 bewusst mitgemeint ist. [Anm. d. Übersetz.]
  3. Im Fall des Warenfetischismus erscheinen Waren so, als ob die in ihnen verkörperte gesellschaftliche Arbeit, die konkreten, durch das Privateigentum entfremdeten gesellschaftlichen Beziehungen, ihre natürlichen Eigenschaften wären. Dies führt dazu, dass wir die bürgerliche Gesellschaft für eine natürliche und damit ewige Produktionsweise halten und nicht für eine, die unser eigenes Produkt ist und die wir daher auch verändern können.
  4. Wenn die tiefe Bedeutung dieses Kampfes nicht begriffen wird, dann kann sich aus der Reproduktion des Patriarchats während des Sozialismus eine neue Bourgeoisie bilden. Die Wurzeln des Patriarchats im Privateigentumsverhältnis können von der Herrschaft der Männer über die Frauen (also einem Verhältnis, das zwar nicht einfach mit einem Eigentumsverhältnis zu identifizieren ist, mit ihm aber wichtige Ähnlichkeiten teilt) wieder auf die Arbeitsprodukte ausbreiten. Die Warenproduktion kann so ganz unbemerkt, weil aus ungeahnter gesellschaftlicher Quelle fließend, zurückkehren. Wir können das hier nur andeuten, denn die konkrete Analyse dieser Möglichkeit und ihrer historischen Wirklichkeit in den einstigen sozialistischen Aufbauprojekten ist sehr verwickelt und muss erst noch geleistet werden. Wichtig ist aber die Einsicht, dass es diese Prozesse gibt und die Konsequenz, die daraus für die kommunistische Strategie zu ziehen ist. Die Frauenrevolution ist weder ein nachgeordneter noch ein Kampf, der einfach automatisch aus der Überwindung der Warenproduktion erfolgt.
  5. Hegel: Differenz des Fichteschen und Schellingschen Systems der Philosophie. In: Werke. Band 2, Frankfurt a. M. 1979, S. 15.
  6. N. K. Krupskaya, On Education, Selected Articles & Speeches (Paris: Foreign Languages Press, 2022), 41. [Eigene Übersetzung]
  7. Tatsächlich gibt es bereits bei Marx und Engels Ansätze des Geschichtsfetischismus. Diese werden wir an anderer Stelle ausführlicher behandeln. Sie sind nicht zu vernachlässigen, da der Marxismus der Zweiten Internationale eben diese Fehler im Denken von Marx und Engels systematisiert und in seine Begriffe eingliedert.
  8. Jaques Droz (Hg.), Geschichte des Sozialismus IX (Frankfurt am Main: Ullstein, 1976), 23: „So konnte jeder deutsche Sozialist – Arbeiter, Frau, Jugendlicher, Greis, Rentner, Kranker, Arbeitsloser oder Intellektueller – sein ganzes Leben lang sich ernähren, wohnen, sich ankleiden, lesen, singen, Sport treiben, ins Theater gehen oder kegeln, ohne jemals den sozialistischen Horizont zu verlassen.“ Es muss hier angemerkt werden, dass gerade im Erfolg der Errichtung einer sozialistischen Lebenswelt schon im Kapitalismus ein konservatives Moment liegt. Die relative Bequemlichkeit, die dadurch für die Arbeiter:innenklasse schon heute geschaffen wird, lädt zum Verweilen ein, so dass der weitere Klassenkampf unversehens gehemmt und schließlich gestoppt werden kann. Zudem hört der Angriff der kapitalistischen Welt auf diese relativ eigenständige sozialistische Sphäre nie auf, so dass ein Stillstand nichts anderes als bereits ein Zurückweichen, ein Abnehmen dieser Sphäre bedeutet.
  9. Die deutsche Arbeiter:innenbewegung entfaltete beispielsweise breite kulturelle Aktivitäten, um das Bildungsniveau und das kulturelle Niveau der deutschen Arbeiter:innenklasse zu heben. Das waren wirksame Projekte. Obwohl es einen Richtungskampf über ihr Verhältnis zur Partei gab – um die Frage, ob die kulturellen Projekte politisiert werden sollten, um das Klassenbewusstsein zu heben oder nicht –, gab es letzten Endes keine theoretische Arbeit der Deutschen, die dem Niveau dieser Aktivitäten angemessen gewesen wäre. Erst mit Gramsci wurde die marxistische Theorie im Hinblick auf Kultur und ihr Verhältnis zur kommunistischen Politik qualitativ weiterentwickelt.
  10. Während Marx gerade die empiristische Methode an Darwin kritisierte, identifizierten viele Marxist:innen der Zweiten Internationale, besonders Kautsky, den Entwicklungsbegriff, wie sie ihn von Darwin kannten, mit der Dialektik. Da der Darwinismus innerhalb der deutschen Arbeiter:innenbewegung der Zeit einen starken Einfluss ausübte – zumal in der Form des Sozialdarwinismus – bildete die undialektische Methode Darwins gleichsam eine Brücke, über die dieses methodologische Unverständnis in die Arbeiter:innenbewegung eindrang. Ein Einfluss, der sich noch heute in unseren Reihen reproduziert, nicht zuletzt weil Lenin, der stark unter dem Einfluss der deutschen Arbeiter:innenbewegung stand, ihn nie restlos überwinden konnte.
  11. In ihrem Buch ‚Sozialreform oder Revolution?‘ widerlegte Luxemburg nicht nur Bernsteins vermeintliche Widerlegung, sondern zeigte auch die Oberflächlichkeit seiner Methode, deren Wurzeln sie in der Aufgabe des proletarischen Klassenverhältnisses sah.
  12. Ohne die historisch-materialistische Dialektik war es den Theoretiker:innen nicht möglich, den qualitativen Sprung innerhalb der Entwicklung des Kapitalismus hin zum imperialistischen Kapitalismus theoretisch zu reproduzieren. So wurden die Auswirkungen dieses Sprungs zu sich blind durchsetzenden Kräften. Diese Theoretiker:innen wurden zu den unbewussten Vertretern einer neuen gesellschaftlichen Grundlage, der Arbeiter:innenaristokratie. Das Interesse dieser Klassenschicht an der Reproduktion des imperialistischen Kapitalismus fand seinen theoretischen Ausdruck in der dogmatischen und fetischisierten Theorie der Marxist:innen der Zweiten Internationale.
  13. Luxemburg hat diese Punkte in ihrer ‚Einführung in die Nationalökonomie‘ ausgearbeitet.
  14. Eine Diskussion der Probleme Luxemburgs’ Imperialismustheorie würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen.
  15. Beispielsweise sagt Rudolf Hilferding in der Einleitung seines Buchs ‚Das Finanzkapital‘, dass er den Marxismus für eine Wissenschaft und damit, seiner positivistischen Auffassung nach, für nicht an eine Klassenposition gebunden hält. Hier finden wir bereits die Wurzeln des Übergehens zu bürgerlichen Positionen, mit ihren Illusionen, über Klassenverhältnissen zu stehen
  16. In diesem Text wird der Begriff ‚Ideologie‘ im Sinne von ‚Die deutsche Ideologie‘ verwendet. Hier ist Ideologie notwendigerweise eine falsche, verkürzte und einseitige Wahrnehmung der Realität. Nach diesem Begriff gibt es keine positive Ideologie.
  17. Nehmen wir die sog. ‚Kritische Theorie‘: Ihre Absicht ist aufrichtig. Ihrer Vertreter:innen wollen die Gesellschaft für die Massen in ihrem jeweiligen Land verbessern. Gleichzeitig arbeiten sie im akademischen Bereich und haben einen bequemen, gut bezahlten Job, in dem sie geistige Arbeit leisten. Wenn sie ihre Kritik zu ihrem radikalen Ende denken würden, würden sie auf die Grundlagen der gesellschaftlichen Reproduktion, die Notwendigkeit des proletarischen Klassenstandpunkts und die Notwendigkeit der Revolution stoßen. Damit würden sie aber ihre eigene Position innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft gefährden. Sie landen stattdessen also bei der Unterstützung der Reproduktion der bürgerlichen Gesellschaft, nur in verfeinerten und indirekten ideologischen Formen. Ihre Kritik ist letztlich apologetisch und reformistisch, da sie die tiefsten sozialen Wurzeln des Objekts ihrer Kritik nicht aufzeigen, geschweige denn auf den praktischen Weg ihrer Entwurzelung führen kann. Und eben weil sie reformistisch sind, wird ihnen erlaubt, innerhalb der bürgerlichen akademischen Welt als Form des domestizierten Dissens zu arbeiten. Diese Toleranz bestärkt sie wiederum in ihrem Glauben an die Reformierbarkeit der bürgerlichen Gesellschaft. Dass sich die sog. ‚Kritische Theorie‘ ihre Geschichtsschreibung mit der Bourgeoisie teilt und das ihre späteren Vetretrer:innen oft ganz offene Sozialdemokrat:innen sind, ist also kein Zufall.
  18. Als Francis Fukuyama das ‚Ende der Geschichte‘ verkündete, behauptete er damit auch das Ende von Klassen und Klassenkampf, da für ihn mit dem Zusammenbruch der UdSSR eine Geschichte jenseits der bürgerlichen Ordnung ausgeschlossen war.
  19. Erinnern wir uns: die titelgebende Fragestellung von Luxemburgs Polemik ‚Sozialreform oder Revolution‘ kommt von Bernstein. Luxemburgs Antwort bestand in der Betonung der dialektischen Einheit beider Momente, wobei die Revolution das Ziel und die treibende Seite darstellt. Damit hat sie bereit den Rückfall Bernsteins in das metaphysische Denken, das die Einheit der Gegensätze nicht mehr begreifen kann, aufgezeigt.
  20. Die Geschichtsschreibung zur chinesischen Kulturrevolution ist hier ein besonders krasses Beispiel, da sich in diesem Fall die ideologischen Verzerrungen sowohl der imperialistischen Bourgeoisie als auch der neuen chinesischen Bourgeoisie, die in jenen Jahren ihre größte Bedrohung erlebte, gegenseitig verstärken, um ein Schreckensbild dieser Zeit zu zeichnen. Diese Ideologie ist so stark, dass selbst ehemalige Maoist:innen der 68er-Bewegung sie letzten Endes reproduzierten, obwohl es sowohl aus dieser Zeit als auch aus jüngerer Zeit hochwertige Literatur über die Kulturrevolution gibt.
  21. Nach der Wirtschaftskrise Mitte der 1970er Jahre und dem Beginn der neoliberalen Periode des Imperialismus haben wir zum Beispiel eine explosionsartige Zunahme der Pflegearbeit erlebt. Gesellschaftliche Verhältnisse, die früher organischer Natur waren, wie die Pflege älterer Menschen in der Familie oder in der Gemeinde, wurden zunehmend kommodifiziert. Die sozialen Bindungen, die früher organisch zwischen uns entstanden sind, wurden so aufgelöst und durch das Geld-Ware-Verhältnis ersetzt. Dies entfremdet uns nicht nur voneinander, sondern zerstört auch eine organischere Einsicht in unsere gemeinsamen Verhältnisse, die auf die größere gesellschaftliche Gesamtheit und ihre dialektischen Bewegungen hinweisen würde.
  22. Zur Frauenbefreiung und den Widerständen, gegen die sie in der frühen Sowjetunion kämpfen musste, siehe z.B.: Monika Israel, Probleme der Frauenemanzipation im nachrevolutionären Rußland in: Alexandra Kollontai, Die neue Moral und die Arbeiterklasse (Münster: Verlag Frauenpolitik, 1977).
  23. Das bürgerliche Patriarchat kann den Schlüssel zur historischen Analyse der Entwicklung des Patriarchats bilden, da es den größten Reichtum an patriarchalen Formen als Produkt eben der vergangenen Kämpfe aufzeigt und so rückblickend erkennen lässt. Zugleich kann es aber auch der Verdinglichung der reifen bürgerlichen Formen dienen, wenn wir nicht erkennen, dass die einzelnen Formen unter den verschiedenen gesellschaftlichen Totalitäten, den verschiedenen Produktionsweisen, verschiedene Bedeutungen und Funktionen haben. Statt zur konkreten Geschichtsforschung gelangen wir dann nur zur Reproduktion der immergleichen, bereits am Ausgangspunkt gesetzten Resultate: das bürgerliche Patriarchat. Dann verschließt uns dieser Schlüsse das Tor zur Selbsterkenntnis – und er tut das notwendig, wenn wir vom bürgerlichen Klassensverhältnis aus denken.
  24. Hier kommt sogar noch erschwerend hinzu, dass das Patriarchat auch im Proletariat eigene Formen annimmt, also nicht unmittelbar mit der Bourgeoisie in Verbindung gebracht werden kann, wenngleich dieser Verbindung auf feingliedrige Weise besteht.
  25. Gramsci hat sich mit der Problematik des teleologischen, fatalistischen Denkens innerhalb der Arbeiter:innenbewegung beschäftigt und die wichtige Differenzierung gemacht, dass dieses Denken, sofern es naiv ist und aus Krisensituationen der Bewegung resultiert, durchaus Ausdruck gerade der Willenskraft der Klasse, sich gegen die Widerstände zu behaupten, sein kann. Wirklich problematisch und für unseren Klassenkampf hemmend wird dieses Denken dann, wenn es theoretische Form annimmt und sich damit über die Krisensituation hinaus verallgemeinert und damit verdinglicht. Antonio Gramsci, Selections From the Prison Notebooks (New York: International Publishers, 2010), 336f. Wir würde heute weiter differenzieren, dass die historische Notwendigkeit dieses Denkens mit der angehäuften geschichtlichen Praxis unserer Klasse bereits überwunden ist. Das heißt dennoch nicht, dass jede Erscheinung naiven fatalistischen Denkens innerhalb der Arbeiter:innenklasse schon reaktionär ist. Es zeigt dann allerdings eine Unreife und Schwäche der Bewegung an, einen Rückfall unter das bereits erreichte Niveau auch in theoretischer Hinsicht.
  26. Denken wir an Kautsky, der sich zu keinem Zeitpunkt seines erwachsenen Lebens als etwas anderes denn als Kommunist begriffen hat. Und doch ließ ihn sein dogmatisches und fetischisitisches Verständnis der Theorie zunächst im Lager der Bourgeoisie und schließlich als 1-Mann-Sekte in völliger gesellschaftlicher Abgeschiedenheit am Beginn des Zweiten Weltkrieges enden.
  27. Auch hier zeigt eine eingehendere Auseinandersetzung mit der Praxis der Aufbauprojekte dieser Zeit den engen Zusammenhang von Geschichtsfetischismus und Reproduktion des Patriarchats. So waren die Kader ausgesprochen patriarchal geprägt, hielten Frauenrevolutionärinnen in den unteren Ränge der Organisationen fest, oder drängten sie direkt in die Reproduktionsarbeit, um selbst ihren Tätigkeiten als „Revolutionäre“ nachzugehen. Damit reproduziert sich das Patriarchat gerade in den Kämpfen, die eigentlich auf seine Überwindung tendieren. Die Reproduktion der bürgerlichen Gesellschaft war hier in der Tat schon in den Anfängen dieser Kämpfe enthalten – nicht als Schicksal, sondern als Produkt unhintergangener Prägung durch die bürgerliche Gesellschaft.
  28. Das heißt, dass der sozialistische Übergang Chinas zwar zeitlich hinter uns liegt, logisch-historisch aber weit in der Zukunft verortet ist. Mehr noch ist diese Zukunft selbst wieder konkret bestimmt durch die chinesische Geschichte, die konkrete Form der chinesischen Gesellschaftsformationen, ihre Klassenkämpfe, ihre Verstrickungen im imperialistischen Weltsystem. Somit vertieft die zeitliche Dimension die Probleme der räumlichen. Die Aufgabe der Konkretisierung in den heutigen imperialistischen Kernländern wird damit immer größer und anspruchsvoller.
  29. Interregnum, wörtlich „Zwischenherrschaft“, wie von Antonio Gramsci in seinen Gefängnisheften beschrieben, bezeichnet eine Krisenzeit, in der die alte Ordnung im Niedergang begriffen ist, aber die Entstehung einer neuen Ordnung noch darum kämpft, Form anzunehmen.
  30. Rosa Luxemburg – „Nach 50 Jahren“ In: Gesammelte Werke Band 3. S. 208.